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Ehrenzeichen zum Halleschen Kunstpreis 2011, Bronze. Entwurf Prof. Bernd Göbel
Laudatio anlässlich der Preisverleihung
Laudator: Clemens Meyer
Der Berg M
Es gibt diese eine Straße, durch die geht man, ein langer Weg ist das, vorbei an Häusern und Fabriken, anderen Straßen, die diese Straße kreuzen. Über kleine Hügel führt sie; Hügel und Erhöhungen auch links und rechts, je weiter man kommt, und so stehen die Häuser auf unterschiedlichen Ebenen, versetzt, verwinkeln sich ineinander, dann fällt diese Straße wieder ab und große Fassaden links und rechts, verfallen, nein, gegerbt, aufgeraut, Hautschichten aus Putz und Stein, Schornsteine gegen den Himmel wie Finger, Masten auch, ohne Schiffe, ohne Fahnen, scheinbar ungewohnt dieser Teil der Stadt, die Straße führt zum Rand, manchmal ist es Süden, manchmal ist es Osten, immer weiter geht man, immer weiter. Und dann irgendwann die Berge. Plötzlich. Groß. Zerklüftet. Als würde die Straße direkt in diese gewaltigen Felsen münden. Die Hänge bewaldet, die Gipfel kahl. Ein Himmel …
Wo?, frage ich. Wo? Aber man kann mir keine genaue Auskunft geben. Eine Legende? Ein Märchen? Und wo bin ich? Du sollst diese Stadt, die du nicht kennst erforschen. Wieder die Stimme. Ein Raum. Zwei Fenster. Türen. Draußen vor den Fenstern die Stadt. Es dämmert bereits auf der einen Seite, aber wenn ich den Kopf drehe, zum anderen Fenster, ist dort Tag. Ein leerer Stuhl steht dort, direkt vor dem Fenster, eine braune Jacke über der Lehne. Ich stehe an der Wand, die sich seltsam weich anfühlt hinter mir, etwas nachgibt, sich bewegt, wenn ich mit den Fingerspitzen über sie streiche, die sich bewegt hinter mir als würde sie … wie eine abgezogene Haut, etwas warm noch.
Ich versuche die Türen zu zählen, es sind einige. Ich bin nicht in einem Traum. Ich schlafe nicht irgendwo anders. Es ist, als hätte sich etwas verschoben, das Licht und die Farben und eine seltsame Stille, eine Ruhe. Er bewegt sich ein paar Schritte an der Wand entlang und versucht die Dinge zu ordnen, die er gehört und gesehen hat. Die Berge, die Straßen, die Häuser, die Stimmen, die …; wenn er die Augen schließt, ein blasses Rosa. Das liegt auf den Dächern, und nicht wie Finger die Schornsteine, sondern wie schlanke Monolithe, wenn sie etwas breiter sind, wie helle graubraune Grabsteine, wie … Er will die Augen gar nicht mehr öffnen, weil da dieses Rosa ist. Er hat es vorher schon gesehen auf seinem Weg. Du sollst diese Stadt, die du nicht kennst …, fremde Stimmen, aber doch bekannt.
Er erinnert sich, wie er das einmal von oben sah am Morgen. Der Fluss, die Hügel, ein Felsen, den ein brauner Turm nach oben verlängert oder erhöht, Brücken über den Fluss, Inseln zwischen den Strömen. Stand er da auf dem Gipfel dieses Berges, zu dem die eine Straße führt, der so anders und so viel größer war als die felsigen Hügel, die dort unten die Landschaft der Häuser begleiten? Aber das Rosa liegt auf dem Dach zwischen den Ebenen, Vordächer, Fassaden tief, Fassaden niedrig, Quadrate hoch, lange schmale Rechtecke, Giebel, die nicht spitz sind sondern fließend rund fast, die zwar weich sind aber dennoch spitz, ineinander verwinkelt diese Ebenen, als hätte sich etwas verschoben. Die Konturen lösen sich auf, verschwimmen. Er ist nicht in einem Traum.
Am Tisch sitzt ein blondes Kind. Das hat die Hände auf die Tischplatte gelegt. Schwarze wollene Handschuhe. „Es führt kein Weg zurück“, sagt das Kind mit den Handschuhen mit hoher Kinderstimme, als es die Augen öffnet. Der Junge sitzt mit dem Rücken zu ihm, und er bewegt sich vorsichtig an der Wand entlang, blickt auf diesen Tisch und den Rücken und die Handschuhe und zum Fenster, vor dem der Stuhl steht, die braune Jacke über der Lehne. Er will sich dort hinsetzen, sich ausruhen, aus dem Fenster schauen, draußen, wo die Dominosteine nicht schwarz sind, den Abstand wahren, wenn sich aneinander lehnen, Licht und Himmel dazwischen, wo die Häuser und Ebenen sich ineinander schieben, wo der Wind farbig ist wie ein feuchter Acker, Nebel auf den Fassaden und den Dächern, und der Fluss dunkel und dann wieder hell zwischen den Bauten, zwischen den … „Gott“, hört er sich plötzlich sagen, „was soll dieser Unsinn, was soll das sein, Cezanne?, die Schwerkraft?“
Der Junge scheint ihn nicht zu bemerken, sitzt wie versunken und allein in diesem Raum, bewegt die Hände, die schwarzen Fingerhandschuhe, über die Tischplatte. Hinterlässt Spuren in dem Staub. Weil die Sonne durch das Tagesfenster fällt, flimmern die Staubpartikel (ist es das? ist es das?) in diesem Licht. Rosa Punkte, nein, kleine Flächen, auf der Tischplatte. Ihm ist, als würde er in einen dieser Guckkästen schauen auf einem alten Jahrmarkt. Da denkt er, während er die Klinke einer Tür im Rücken spürt, dass er verschwinden muss. Die Straße suchen muss, die zu dem Berg führt. Er ist Stunden vorher, oder wie auch immer, denn die ZEIT scheint keine Rolle zu spielen, gewandert. Brücken. Straßen. Häuser. Stimmen.
Als er sich am Kopf kratzen will, hat er Fausthandschuhe an und wirft sie zornig in den Raum. Und er stolpert in die Tür. Eine der Türen, die er zählen wollte. Aber diese Zahlen bringen ihn durcheinander jetzt … er kann spüren, wie die magnetischen Richtungen an ihm zerren, die Straße mal nach Osten, mal nach Süden und zu den eisigen Polen; die Berge sind unter den Meere am höchsten und tiefsten, „Bis ich den Blick zum Fenster heraus …, da hatte ich meinen Faden gefunden, eins ergibt dann
immer das andere, ein Bild ergibt das nächste …“, er blickt zurück auf die Schwelle, dreht sich nochmal um, und weiß nicht, ob er das ruft oder das Kind, der Junge, der ihn jetzt anblickt , den Kopf fast verdreht mit hoher Stirn, „die Spannung dazwischen …“, da winke ich ab und will doch nur noch verschwinden, das Zimmer und die Tür vor mir, „Abstraktion und Gegenstand …“, flüstert der Junge, dessen Mund, dessen Lächeln jetzt dunkel verschmiert mit einem Saft, einer Art Saft, der ihm aus den Mundwinkeln läuft, wie dunkle Milch, im Guckkasten stolpert er allein durch die Wälder und sammelt Beeren und durchwühlt die Büsche und das Gras, und sieht … Berge und Hütten und Straßen und Häuser, in Ebenen übereinander, die er nicht kennen kann, zwischen den Zeiten.
Er ist schwach, und das Licht und die Farben und die Welt verschieben sich vor seinen Schritten und dahinter. Ob das doch ein Traum ist? Ich schlafe nicht. Ich schlafe nicht irgendwo anders. „Bei mir sind die Menschen in sich zurückgenommen. Das sind ja Wesen aus einer anderen Welt.“ Und als der Blick fällt, aus dem Guckkasten in den Guckkasten: Sitzt er am Fenster in dem Stuhl. Schaut, und befühlt die leinene Wand und das Holz der Lehne. Greift mit der Hand in das Licht. Spürt, wie sich am Hinterkopf die Augen öffnen.
Aber der Junge ist verschwunden. Am Tisch sitzt eine alte Frau. Die trägt eine große müde Brille, die Augen sind nicht zu sehen hinter den Gläsern und sind doch da. Und als ob sie die Dinge telepathisch begreift sagt sie leise „Nicht zu sehen und doch da.“ Sie legt die Hand an den Mund. Zweifelnd, Oder erschöpft. Der Fortgang der Dinge. Die Schwerkraft? Er ist müde und spürt das Licht auf seinem Gesicht. Er ist lange durch die Straßen gewandert, ist durch diese Stadt geirrt, die er einmal von oben gesehen hat, der Fluss war ein silbernes Band, durch die Sonne. Wann war das?
Und wie kommt er in diesen Raum, in dem die Frau leise vor sich hin murmelt in seltsamen Melodien, und hat er nicht eben noch vor der halb geöffneten Tür gestanden und in eins der Zimmer geblickt, ein langer Gang mit weiß getünchten Wänden, braun und glänzend der Boden, ist er nicht langsam in den
Gang getreten?, seine Schritte quietschen leise auf dem Bodenbelag, er sieht, auf einer anderen etwas höheren Ebene zu der eine kleinen Treppe führt, eine weitere geöffnete Tür, ein bläuliches Licht in diesem Raum, der ihm so weit entfernt vorkommt.
Er geht ein paar Schritte, hört ein Klopfen neben sich, stützt sich an den großen hölzernen Schrank, aus dem das Klopfen kommt, will es ignorieren, will zu dem Zimmer und dem Licht, es zieht ihn dort hin, er wird fast hineingesogen, das kleine Zimmer wie im Herzen eines Orkans, der irgendwo da draußen ist und tobt, woanders, er verspürt den Wunsch in dieser Stille zu verschwinden, sich auflösen in Gelb und Braun und Ocker, wie Herbstlaub, aber dann öffnet er doch einen Flügel der Schranktür, streicht vorher über das Holz bis ihm ein großer Splitter unter die Haut fährt.
Ein kleines Mädchen sitzt in dem Schrank, die Jacke so rot, dass er fast an die Wand zurückstolpert. Sie hält die Hand nahe der Kehle an ihre Brust gedrückt und blickt irgendwohin und irgendwohin: „Er hätte sich fast die Hände erfroren und er wusste, dass er dann nicht all das hier erschaffen könnte. Er ist fast im Wald erfroren, obwohl er die Beeren gegessen hat … Die Hände sind doch das wichtigste am Menschen, das Spüren der Oberflächenkultur, aber was sind schon die Hände allein …“ Er möchte etwas fragen, schließt die Augen, öffnet die Augen, sitzt in dem Stuhl am Fenster und blickt auf die Stadt. Was hat das Mädchen zu ihm gesagt? Oder war das der blonde Junge mit den Handschuhen, der im Schrank saß. Oder saß niemand im Schrank, und er ist fast wie hypnotisiert auf das kleine Zimmer am Ende des Ganges zugelaufen … Die Dinge verschieben sich, und er kann sie nicht greifen.
Er läuft durch die Straßen dieser Stadt. Der Himmel ist blass, hellgelb, leuchtend fast direkt über den Giebeln und Dächern der Häuser, greift in die Giebel und Dächer der Häuser, nur an den Rändern dieses Himmels dämmert es bereits, rot; und als er das nächste Mal aufblickt, berühren seine Augen ein helles Blau, er hat einen Menschen gesehen, den ersten seit Stunden oder Tagen, er weiß es nicht genau, manchmal fragt er sich, ob das eine Art irdisches Jenseits ist, oder ein Paralleluniversum, „wenn man etwas erhascht, dann ist es meistens irgendwie zufällig“, jemand beobachtet ihn und er beobachtet alles, und nun folgt er dem Mann, denn die Gestalt schien ihm ein Mann zu sein, Straßenbahnschienen liegen eingebettet im Pflaster, die gedrungene kräftige Gestalt huscht immer ein ganzes Stück vor ihm um die Ecken, um die Kurven, durch die Ebenen, die geschwungenen Straßen, die immer wieder in neue Landschaften führen.
So lebt der Mensch also, denkt er, so lebt der Mensch, und auch wenn ich nicht bin oder nicht weiß wo ich bin, weiß ich doch, dass ich diesen Schatten da vor mir kenne, aus bunten Träumen, in denen sie Hochzeit feiern, in denen Rummelplätze glühen, in denen geschmückte Wagen über die Pflastersteine holpern, leere Flaschen klimpern auf dem Gehsteig, spielt da nicht jemand auf einer Ziehharmonika?, aber das sind nur Verwirrungen seiner Sinne, wie die Stimmen vorhin und immer wieder, die wie ein Echo in den Bergen in ihm nachklingen, „Form, Form, Form“, und er folgt dem Mann und den Klängen in trostloser Heiterkeit … was soll das sein? Hat er das gedacht? Oder hat ihm das jemand ins Hirn gelegt, ein Vogel sitzt auf seinem Kopf, obwohl er keinen Vogel gesehen hat, seit er in diesen Räumen sucht. „Die Wüste“, brüllt der Mann vor ihm plötzlich, „die Wüste ist ganz und gar hell und ganz und gar trostlos!“ Und dann ist er weg, dieser Flegel, und er sieht ihn, wie er da kraxelt, zwischen den Ebenen und steilen Hängen der Häuser, der Stadt.
Später, über der Festung, über dem Turm auf dem Felsen, steigt gelber Rauch auf, als wäre der neue Papst gewählt, und darüber muss er lachen, das schallt und hallt in den Schluchten in trostloser Heiterkeit. Wo doch niemand da ist, der die Kamine heizt. Und als er falsch abbiegt, diesen Berserker mit den Flaschen aus den Augen verliert, an einer gekalkten Fassade vorbeikommt, in die ihn das schwarze Rechteck einer Tür führen will; und hinter diesem Gebäude ein weit höheres Haus, Wohnhaus, mit Vorsprüngen und steilen Eckenanbauten, die lebende Geometrie der Bauten und Bauden, auf deren Grund winzige Hinterhöfe ruhen, die von dieser Position aus nicht zu sehen sind, „Chirico, Chirico!“, ruft der Vogel auf seinem Kopf, „nicht zu sehen und doch da“, da versinken seine Flügel plötzlich im Sand. Und er spürt die Unendlichkeit und die Endlichkeit unter dieser bernsteinernen Tiefe.
Diese Straße öffnet sich wie ein Tal, während er versinkt. Und während ihn der Treibsand schluckt, spürt er schmerzhaft, wie sich vor ihm, und um seine Augen, ein Bild rahmt. Wie sie Nägel in sein Sichtfeld schlagen, und der stille Berserker, der woanders die Öfen heizt, schaut ihn an, den Versinkenden, von weit oben, von einem Turm auf einem Felsen über der Stadt, der nichts, aber auch wenig mit dem großen Berg der Legenden zu tun hat. Sieht, wie der Mann versinkt, sieht die zartrosa Flecken auf dessen Jochbeinen. Aber was soll er eingreifen? Pass auf!, will ich noch rufen, „ich sehe mich eigentlich immer als Beobachter von außen, und hatte nie die Ambition, mich irgendwie einmischen zu wollen. Ich habe nichts dagegen, wenn das andere Leute tun, aber meine Sache ist das nicht.“ […]
Und als er später endlich in dieser einen Straße angekommen ist, durch die letzte Biegung wandert, sich den gelben Sand von den Schultern klopft und sich den Sand aus dem weißen Bart kämmt, der Stoff riecht nach Speck und Nadelbäumen; da ordnet sich alles und verschiebt sich alles. Vor ihm tut sich der Grat auf, bricht aus den Häusern, bricht aus dem Stein. Berge, und darüber die Berge. Da sieht er sich wieder als Kind. Sieht und spürt seinen letzten Blick auf das Haus im Riesengebirge, in dem er lebte als Kind, der Wind ist kälter im Gesicht; und sieht sich als Maler mit der Rolle an der Wand. Woanders. Und streicht mit der Hand über Haut und Leinwand und Stein. Stahl auf der Berliner Brücke. Stelen neben den Wegen. Sieht die Straßen und Pfade, schneebedeckt. Und steigt. Höher,
und immer weiter. Einen Rucksack auf dem Rücken, aus dem die gerollten Leinwände schauen. Steigt. Es führt ein Weg zurück. Es führt kein Weg zurück. Und ich stehe am Fuß dieses großen Berges, wir stehen, und sehen wie er im Nebel, im Licht entschwindet.
Fotos: Jürgen Domes
Zu Otto Möhwald
- 1933 geboren in Krausebauden (Böhmen)
- 1948–1950 erste Versuche als Maler
- 1950–1955 Studium am Institut für künstlerische Werkgestaltung Burg Giebichenstein/Halle an der heutigen Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle bei Ulrich Knispel, Erwin Hahs, Lothar Zitzmann und Kurt Bunge
- 1954–1956 tätig als Zeichenlehrer
- 1991–1998 Lehrbeauftragter an der Hochschule für Kunst und Design Burg Giebichenstein, Fachrichtung Malerei
- 1995 Professur
- bis 1999 Leiter der Malklasse an der an der Hochschule für Kunst und Design Burg Giebichenstein, lebte und arbeitete in Halle (Saale)
- 2016 gestorben in Halle (Saale)